Share

Jungen Menschen in Deutschland fällt der Aufstieg in die Mittelschicht zunehmend schwer

 

(Paris/Berlin, 1. Dezember 2021) – Jungen Menschen in Deutschland fällt es heute deutlich schwerer, ein Mittelschichtseinkommen zu erzielen, als noch vor zehn oder 20 Jahren. Gleichzeitig hat sich die Mittelschicht insgesamt von der deutlichen Schrumpfung um die Jahrhundertwende trotz einer insgesamt positiven Arbeitsmarktentwicklung nicht wieder erholt. Bessere Weiterbildungschancen für Geringqualifiziere und bessere Voraussetzungen für Vollzeiterwerbstätigkeit, insbesondere für Frauen, könnten helfen, die Mittelschicht in Deutschland zu stärken. Zu diesem Ergebnis kommt eine neue Studie der OECD, die von der Bertelsmann-Stiftung unterstützt wurde.

 

In der Studie Bröckelt die Mittelschicht in Deutschland? Risiken und Chancen für mittlere Einkommensgruppen auf dem deutschen Arbeitsmarkt werden all jene zur Mittelschicht gezählt, deren Einkommen nach Steuern und Transfers zwischen 75 und 200 Prozent des mittleren äquivalenzgewichteten Einkommens liegt. So war für eine alleinstehende Person für einen Platz in der Mittelschicht im Jahr 2018 ein Monatseinkommen nach Steuern und Transfers von rund 1.500 bis 4.000 Euro nötig, für ein Paar mit zwei Kindern zwischen 3.000 und 8.000 Euro.

 

Die Studie zeigt, dass es für jede Generation seit den 1950er Jahren schwerer geworden ist, der Mittelschicht anzugehören. Während es bei den Babyboomern (Jahrgänge 1955 bis 1964) noch 71 Prozent zwischen dem 20. und dem 30. Lebensjahr geschafft haben, ein Mittelschichtseinkommen zu erzielen, waren es bei der Generation X (Jahrgänge 1965 bis 1982) im selben Alter nur noch 68 Prozent und bei den Millennials (Jahrgänge 1983 bis 1996) lediglich 61 Prozent.

 

Insgesamt liegt der Anteil der Menschen in Deutschland, die zur Mittelschicht gehören, seit 2005 bei rund 64 Prozent. 1995 lag er noch bei 70 Prozent der Bevölkerung. Insbesondere aus der unteren Mittelschicht (75 bis 100 Prozent des Medianeinkommens) sind zwischen 1995 und 2005 viele Menschen in prekäre Einkommensverhältnisse oder in Armut abgestiegen. Auch die gute Arbeitsmarktsituation der vergangenen Jahre hat diese Entwicklung nicht umgekehrt. Unter den 26 OECD-Ländern, für die diese Daten vorliegen, ist nur in Schweden, Finnland und Luxemburg die Mittelschicht im Vergleich zur Mitte der 90er-Jahre stärker geschrumpft als in Deutschland.

 

“Eine starke und florierende Mittelschicht ist die Basis für eine gesunde Wirtschaft und Gesellschaft. In Gesellschaften mit einer starken Mittelschicht gibt es mehr soziales Vertrauen, bessere Bildungsergebnisse, mehr gesunde Menschen und eine höhere Lebenszufriedenheit“, sagte OECD-Generalsekretär Mathias Cormann. „Unser Bericht zeigt, dass die Mittelschicht in Deutschland, wie auch in vielen anderen OECD-Ländern, unter Druck geraten ist. Mit der Transformation unserer Volkswirtschaften könnte dieser Druck weiter zunehmen. Deshalb ist es wichtig, dass Arbeitskräfte ihre Fähigkeiten und Kompetenzen stärken und dass gute Jobs entstehen und so auch die verfügbaren Einkommen steigen“, so Cormann weiter.

 

Bildung spielt dabei eine entscheidende Rolle: Der Anteil der 25- bis 35-Jährigen mit niedrigem oder mittlerem Bildungsniveau, die es in die Mittelschicht schaffen, ist im Vergleich zu 1995 überproportional gesunken: Für jene mit maximal einem Realschulabschluss ohne Berufsausbildung um 27 Prozentpunkte (von 67 auf 40 Prozent) und für jene mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung oder Abitur um 12 Prozentpunkte (von 73 auf 61 Prozent).

 

Um die Mittelschicht zu stärken, müssten unter anderem Barrieren auf dem Arbeitsmarkt abgebaut werden, so die Studie. Beschäftigte mit geringen Wochenarbeitsstunden, insbesondere Minijobber, profitieren seltener von Weiterbildung oder betriebsinternen Aufstiegsmöglichkeiten. Die Analyse zeigt, dass dies auch die Chance zur Mittelschicht zu gehören verringert: Während nur ein Viertel der Beschäftigten in der Mittelschicht in Teilzeit arbeitet, sind es in der unteren Einkommensgruppe 43 Prozent. Hinzu kommen die Auswirkungen schlechter Bezahlung: etwa ein Sechstel (18 Prozent) der Vollzeitbeschäftigten, die in Mittelschichthaushalten leben, arbeitet zum Niedriglohn. Bei Beschäftigten in der unteren Einkommensgruppe ist der Anteil hingegen viermal so hoch. Dabei schwächt der große Niedriglohnsektor die Lage der unteren Einkommensgruppen zusätzlich, da Niedriglohnjobs nur selten ein Sprungbrett in besser bezahlte Beschäftigung sind.

 

Besonderes Augenmerk verdient die Arbeitsmarktsituation von Frauen. Sie arbeiten zwar häufiger als früher, allerdings oft mit geringer Stundenzahl und in Tätigkeiten, für die sie überqualifiziert sind. Zudem zeigt sich, dass es zunehmend ein zweites gutes Arbeitseinkommen braucht, um zur Mittelschicht zu gehören. Eine kombinierte Reform von Minijobs und Ehegattensplitting sowie eine bessere Entlohnung von Pflegeberufen, in denen mehrheitlich Frauen arbeiten, könnten hier einen Beitrag leisten.

 

Die vollständige Studieist verfügbar unter: https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/broeckelt-die-mittelschicht-all

 

Die OECD ist ein globales Forum, das mit über 100 Ländern zusammenarbeitet. Sie tritt ein für eine Politik, die die individuellen Freiheiten wahrt und das wirtschaftliche und soziale Wohlergehen der Menschen weltweit fördert.

 

Related Documents