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Europa sollte seine Wirtschaftsarchitektur reformieren, um krisenfester zu werden

 

(Berlin/Paris, 10./11. September 2021) – Die europäische Wirtschaft befindet sich nach der pandemiebedingt bislang stärksten Rezession wieder auf Wachstumskurs. Entscheidend dabei war, dass die europäischen Regierungen und Institutionen schnelle und weitreichende Maßnahmen ergriffen haben, um den Schock abzufedern.

 

Eine Rückkehr zum Vorkrisenniveau wird jedoch nicht reichen. Die Krise hat neue Herausforderungen geschaffen und bestehende Schwächen, wie beispielsweise regionale Ungleichheiten, verschärft. Zwei aktuelle OECD-Studien zur Europäischen Union und zum Euroraum zeigen Maßnahmen auf, die für eine kräftige und nachhaltige Erholung unerlässlich sind: Zum einen braucht es Reformen, die das Wachstumspotenzial ankurbeln. Dabei muss die konjunkturstützende makroökonomische Politik aufrechterhalten bleiben, bis der Aufschwung stabil ist. Zum anderen gilt es, Europas Wirtschafts­architektur zu stärken.

 

Die Wirtschaftsberichte der OECD zur Europäischen Union und dem Euroraum warnen davor, die fiskal- und geldpolitische Unterstützung zu früh zurückzuziehen. Darüber hinaus fordern sie, dass Klarheit darüber hergestellt wird, wie diese Politik je nach Verlauf der Erholung angepasst werden soll. Die Studien gehen davon aus, dass der Euroraum für einen begrenzten Zeitraum mit einer Inflation leicht über dem Zwei-Prozent-Ziel leben kann. Die Mittel des Wiederaufbauplans Next Generation EU (NGEU) sollten rasch investiert werden, um Wachstum und Beschäftigung zu fördern, den ökologischen und digitalen Wandel voranzutreiben und regionale Ungleichheiten abzubauen. Parallel sollte die Reform der europäischen Wirtschaftsarchitektur fortgesetzt werden, um Stärke und Qualität des Aufschwungs im ganzen EU- und Euroraum zu optimieren, insbesondere durch eine Reform der Fiskalregeln und die Vollendung der Bankenunion.

 

„Europas Entscheidungsträger:innen haben den durch COVID-19 verursachten wirtschaftlichen Schock sehr gut bewältigt. Geholfen haben ihnen die Lehren aus der Krise von 2008 und der Mut, weitreichende politische Maßnahmen zu ergreifen. Zu nennen ist insbesondere die Bereitschaft, zum ersten Mal gemeinsame Schulden aufzunehmen. Es ist jetzt an der Zeit, im Rahmen der Konjunkturprogramme alte Probleme anzugehen und sich gleichzeitig neuen strukturellen Herausforderungen zu stellen – und zwar so, dass sie der EU und dem Euroraum zu einem solideren Fundament und einem besseren Zukunftskurs verhelfen”, so OECD-Generalsekretär Mathias Cormann. „Mit den richtigen Reformen kann und wird Europa gestärkt aus der Pandemie hervorgehen und beim Aufbau einer starken und nachhaltigen Weltwirtschaft eine Führungsrolle einnehmen.“

 

Die Wirtschaft Europas wird sich im zweiten Halbjahr 2021 voraussichtlich weiter erholen. Trotz einer leichten Abschwächung des BIP-Wachstums in 2022 wird die Erholung robust bleiben. Sie verläuft jedoch nach wie vor uneinheitlich. Neue Virusvarianten bleiben ein Risikofaktor, insbesondere für Länder mit niedrigeren Impfquoten. Die Berichte gehen für 2021 und 2022 in der EU und im Euroraum von einem BIP-Wachstum von über vier Prozent aus – nach Rückgängen um über sechs Prozent in 2020. Die Inflation wird im Euroraum trotz eines vorübergehenden Anstiegs mittelfristig wohl unter zwei Prozent bleiben. Aktualisierte Vorhersagen veröffentlicht die OECD in der Zwischenausgabe ihres Wirtschaftsausblicks am 21. September.

 

Angesichts des unsicheren Umfelds begrüßen die Autor:innen der Wirtschaftsberichte die Entscheidung, die Ausweichklausel des Stabilitäts- und Wachstumspakts der EU bis Ende 2022 weiter anzuwenden. Auch die jüngste Entscheidung der Europäischen Zentralbank, in Zukunft ein symmetrischeres Inflationsziel von zwei Prozent anzustreben, wird positiv bewertet. Die Geldpolitik sollte akkommodierend ausgerichtet bleiben, bis die Inflation dieses Ziel dauerhaft erreicht. Dies könnte bedeuten, dass die EZB vorübergehend eine Inflation über zwei Prozent zulässt, bevor sie ihre Politik ändert.

 

Die NGEU-Mittel sind entscheidend, um den Aufschwung zu stärken, Europas Wachstums­potenzial zu steigern, den digitalen Wandel voranzutreiben und mit der Umsetzung des europäischen Green Deal für umweltverträglicheres Wachstum zu sorgen. Im Mittelpunkt sollte dabei die Förderung von industrieller Innovation, digitalen Technologien, erneuerbaren Energien und grenzüberschreitenden Infrastrukturen stehen, wie z. B. miteinander verbun­dene Stromnetze sowie Ladepunkte für Elektrofahrzeuge. Wesentliche Voraussetzungen für den Erfolg des NGEU sind: eine zügige Umsetzung der nationalen Aufbau- und Resilienz­pläne, die Nutzung der EU-Zuschüsse zur Aufwertung der wirtschaftlichen Aktivitäten und zur Ergänzung – nicht anstelle – der nationalen Finanzierung öffentlicher Investitionen sowie eine solide Governance. Damit ein erfolgreiches Zusammenspiel öffentlicher und privater Investi­tionen möglich ist, gilt es Hemmnisse für private Investitionen abzubauen, z. B. durch einfachere Genehmigungsverfahren.

 

Darüber hinaus ist es wichtig zu verhindern, dass die Coronakrise, die manche Länder, Regionen und Sektoren heftiger getroffen hat als andere, regionale Unterschiede und Einkommensungleichheiten weiter verstärkt. Bereits vor der Krise gab es erhebliche Einkommensunterschiede: In den Regionen, in denen die reichsten 20 Prozent der EU-Bevölkerung leben, war der Lebensstandard fast dreimal höher als in den Regionen mit den ärmsten 20 Prozent. Mittel- und osteuropäische Länder, die zum Zeitpunkt ihres EU-Beitritts zu den wirtschaftlich schwächsten zählten, haben sich dem durchschnittlichen Lebensstandard der EU angenähert. Allerdings gibt es hier vielfach eine wachsende Kluft zwischen den großen Städten und dem ländlichen Raum.

 

Der EU-Wirtschaftsbericht empfiehlt mehr länderübergreifende und interregionale Kooperation bei Innovation, Digitalisierung und Verkehr, damit ärmere Regionen ihre produktive Spezialisierung verbessern können. Die Maßnahmen der Kohäsionspolitik und der Politik zur Entwicklung des ländlichen Raums müssen effizienter und zielgenauer werden. EU-Haushaltsinstrumente wie die Gemeinsame Agrarpolitik sollten so eingesetzt werden, dass sie nicht zur Stützung ineffizienter Unternehmen oder Aktivitäten beitragen, z. B. durch nicht wettbewerbliche Zuschüsse oder Beschaffungsaufträge. Außerdem sollten sie darauf zielen, Regionen durch höherwertige Wirtschaftstätigkeiten aufzuwerten.  

 

Ebenso wichtig ist die überfällige Verbesserung der europäischen Wirtschafts­architektur. Die gegenwärtigen Fiskalregeln sind zu kompliziert, zu schwer zu befolgen und zu schwierig durchzusetzen. Bei ihrer Reform sollte es darum gehen, das Verantwortungsbewusstsein der einzelnen Länder zu stärken, die Komplexität zu verringern und Spielräume für drängende Herausforderungen wie den Klimaschutz zu schaffen. Der Euroraum würde auch von einer stärkeren fiskalischen Integration profitieren. Für Schocks, die zu groß sind, um auf nationaler Ebene bewältigt zu werden, sollte nach Möglichkeit eine gemeinsame fiskalische Stabilisierungskapazität eingerichtet werden. Darüber hinaus fordert der Euroraum-Wirtschaftsbericht eine Förderung der grenzüberschreitenden Arbeitskräfte­mobilität, eine Vertiefung der Kapitalmarktunion und die Vollendung der Bankenunion, u. a. durch die Einrichtung einer gemeinsamen europäischen Einlagensicherung.

 

 

Die OECD ist ein globales Forum, das mit über 100 Ländern zusammenarbeitet. Sie tritt ein für eine Politik, die die individuellen Freiheiten wahrt und das wirtschaftliche und soziale Wohlergehen der Menschen weltweit fördert.

 

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